Entstehungsgeschichte

Wie ist der „Nahsinn-orientierten Ansatzes“ entstanden?

1.                 Ein Kind hat Schulschwierigkeiten und braucht Hilfe

Ich beschäftige mich bereits mehr als vierzig Jahre damit, Kindern bei Schulproblemen zu helfen. In diesem Zeitraum arbeitete ich mit dem in diesem Buch vorgestellten Ansatz in der Sozialarbeit, in der Fortbildung von ErzieherInnen und Lehrkräften, und ich war als Lerntherapeutin an verschiedenen Schulen sowie in der eigenen Praxis tätig.

Begonnen hat alles im Schuljahr 1972/73. Damals begann ich meiner Tochter, die erhebliche Schulprobleme hatte, bei den Hausaufgaben zu helfen.

Sabine, so nenne ich sie, kam in eine erste Klasse, die an einem Schulversuch mit einer modifizierten Form der Ganzwortmethode teilnahm. Das Rechnen lernten die Kinder mit der „Mengenlehre“, die zu diesem Zeitpunkt bereits in vielen Klassen eingeführt worden war. Deshalb legte man uns Eltern nahe, einen Volkshochschulkurs zu belegen: „Einführung in die Mengenlehre“, damit wir unseren Kindern zuhause helfen konnten, während im Rahmen von Elternabenden die neue Art, das Lesen und Schreiben zu erlernen, erläutert wurde.

Trotz der „Ausbildung“ der Eltern als Hausaufgabenhelfer, gab es SchülerInnen, die erhebliche Lernprobleme hatten. Darunter war auch Sabine. Ihre Lernprobleme waren so ausgeprägt, dass die Lehrerin nach einigen Wochen mich einbestellte und mir mitteilte, dass Sabine als „allgemein schwach“ eingeschätzt worden sei und in eine am gleichen Ort befindlichen Sonderschule für Lernbehinderte überwechseln solle.

Ab diesem Zeitpunkt kümmerte ich mich intensiv um die schulischen Belange des Kindes. Vor der Einschulung hatte ich Sabine eigentlich als gut entwickelt eingestuft. Deshalb wollte ich nun wissen, warum dieses Kind in der Schule versagte.

Im Zusammenhang mit den Hausaufgaben versuchte ich dann das, was in der Schule an dem Kind offensichtlich „vorbeirauschte“, auf andere Weise zu wiederholen.

Wie lernt Sabine Lesen und Schreiben?

Das Lesen lernen war in Sabines Klasse so angelegt, dass zuerst einige Wörter ganzheitlich erlernt wurden, aus denen die Kinder dann die Buchstaben „herausziehen“ sollten, um andere Wörter zu konstruieren. Sabine konnte weder die Wörter ohne Vorlage schreiben noch die Lautkette eines Wortes mit der Buchstabenkette verbinden. Das bedeutete, dass die elf „Musterwörter“ für sie keine Hilfe waren, um eine Laute-Buchstaben-Verbindung herzustellen. Sie brauchte demzufolge für die Laute einen Ersatz.

Dieser Ersatz bestand aus der Sprechbewegung, die ich für jeden Laut auf eine Karte aufmalte. Zum besseren Verständnis der Zungenbewegungen, die man nicht von außen sehen konnte, malte ich einen „sprechenden Roboter“, bei dem das Seitenteil des Kopfes heruntergeklappt war, so dass das Kind die Zungenstellung im Mund bei bestimmten Lauten in der Seitenansicht betrachten konnte.

Außerdem stellte ich sicher, dass sie in ihrem eigenen Mund die Sprechbewegungen spüren und diese auch beschreiben konnte. Dadurch lernte sie schrittweise die insgesamt fast vierzig Laute der deutschen Sprache zu unterscheiden. Die Graphiken der Mundbilder zeigten jeweils die markanten Stellungen von Zunge, Lippen oder Zähnen, die zur Bildung eines bestimmten Lautes notwendig waren. Damit wurde eine Vorläuferfertigkeit nachentwickelt, nämlich die „Sprechbewegungs-Laut-Verbindung“. Gleichzeitig verfügte sie über eine „Laut-Buchstaben-Verbindung“, weil das Mundbild mit den Buchstaben gekoppelt wurde. Damit waren die „Laute“ nicht mehr „flüchtig“, weil sie durch Mundbilder repräsentiert wurden.

Diese Kopplung (Mundbild-Graphik und Buchstabe) bildete für sie ein „Nachschlagewerk“, da auf der Rückseite der Mundbild-Kärtchen die großen und kleinen Buchstaben vermerkt waren. Trotz des Schulversuchs durfte Sabine die Kärtchen in der Schule benutzen. Diese „Spickzettel“ bewirkten, dass sie bei jedem Wort, das sie hörte, genau die Reihenfolge ihrer Sprechbewegungen erfühlte, um über das passende Mundbild an die Buchstaben zu kommen.

Bis zum Ende der ersten Klasse hatte sie im Lesen und Schreiben aufgeholt und ihre Leistungen waren sogar besser als diejenigen vieler anderer MitschülerInnen.

Wie lernt Sabine das Rechnen? 

Beim Erlernen des Lesens und Schreibens war das „Fühlen“ der Sprechbewegungen zur Lautbildung für die Lautanalyse eines Wortes erfolgreich. Für das Rechnen lernen in einem Zehnersystem   - so dachte ich -   könnten die zehn Finger eine Hilfe über den gleichen Sinneskanal wie beim Lesenlernen darstellen, nämlich über die Tast- und Bewegungsempfindung.

Viele Kinder, so auch Sabine, nutzen von sich aus bereits die Finger als Stütze beim Rechnen, allerdings in einer Weise, die selten zum Kopfrechnen führt: Sabine begann das Abzählen an den Fingern beim Daumen der einen Hand mit der Eins. Die Innenflächen der Hände waren dem Körper zugewandt. Sie zählte bis fünf und wechselte dann auf den Daumen der anderen Hand

Diese Zählweise war jedoch mit einem Wechsel der Richtung (wie unten zu erkennen ist) verbunden und es unterliefen ihr dabei immer wieder Fehler (Abbildung E I.1).

Abbildung E I. 1): Das Fingerzählen, wie es in unserem Kulturraum üblich ist

Um Finger und Zahlenstrahl aufeinander abzustimmen, war eine Umgestaltung der Fingerverwendung beim Rechnen notwendig. In Abbildung E I.2 ist zu sehen, wie wir dann die Finger einsetzten.

Abbildung E I.2): Ein Fingerzählen, das zum Kopfrechnen führen kann

In Teil I, Kapitel I dieses Buches ist der Einsatz der Finger für das Rechen-Training genau erläutert.

Auch diese Hilfe wirkte sich bereits in der ersten Klasse sehr positiv aus, so dass eine Einweisung in die Sonderschule für Lernbehinderte vorerst abgewendet war. Doch es schien, als könne sich das Kind in ihrer Klasse nicht mehr aus der Schulversagerrolle lösen.

Durch einen Umzug unserer Familie in einen Nachbarort bestand die Möglichkeit, auch die Schule zu wechseln. Dadurch konnte Sabine ohne die übliche Diskriminierung als „Sitzenbleiberin“ die dritte Klasse wiederholen und zählte sofort zu den besten SchülerInnen. Diese neue Erfahrung brachte ihr das aus der Vorschulzeit gewohnte Selbstvertrauen wieder zurück und sie beendete schließlich als „Selbstläufer“ die Schule mit dem Abitur. Heute ist sie selbst Lehrerin und hat ihr zweites Staatsexamen mit der Bestnote abgeschlossen

2.                 Der Unterricht mit anderen Kindern

Inzwischen hatte es sich herumgesprochen, dass Sabine ihre anfänglichen großen Schulschwierigkeiten überwunden hatte, so dass Eltern, deren Kinder ebenfalls unter Rechen- oder Lese- und Rechtschreibproblemen litten, auf mich zukamen und mich baten, auch ihren Kindern zu helfen.

Da die von mir betreuten Kinder in der Schule relativ schnelle Leistungsverbesserungen zeigten, wurde der Schulleiter einer Nachbargemeinde auf mich aufmerksam, so dass ich Gelegenheit erhielt, mit einer Gruppe von lernschwachen Kindern aus fünf zweiten Klassen zu arbeiten.

Förderunterricht an einer Grundschule

Mitte der 1970er Jahre bekam ich Gelegenheit, den Förderunterricht für 15 SchülerInnen aus fünf zweiten Klassen einer Grundschule im Rechnen, Lesen und Schreiben ehrenamtlich zu übernehmen.

Zur großen Überraschung des Schulleiters konnten diese Kinder nach einem halben Jahr bei zweimal einer Doppelstunde Unterricht pro Woche in ihren Klassen mitarbeiten. Das war für den Schulleiter umso erstaunlicher, als Kinder aus dem Jahrgang zuvor ein halbes Jahr Förderunterricht von einem Doktoranden der Erziehungswissenschaften erhalten hatten, der nach dieser Zeit das Projekt ohne nennenswerte Erfolge beendete.

Für meine SchülerInnen, die diesen Zusatzunterricht wahrnahmen, hatte ich die Laut–Pictogramm–Karten in eigens dafür gebastelten Karteikästen einsortiert, damit die Kärtchen für das Wörterlegen schnell zur Hand waren und wieder eingeordnet werden konnten.

Die Kinder nahmen die Materialien und die damit verbundenen Lernprozesse erstaunlich gut an und arbeiteten auch im Rechnen in der in Teil I beschriebenen Weise, also mit den Fingern, in der Gruppe gut mit.

Das Vormachen und Nachahmen des Finger-Rechnens wechselte ich mit dem Auftrag ab, diese Übungen in Partnerarbeiten weiterzuführen.

3.                 Eine Broschüre „Die Lautschrift für Kinder“

Mit dem vorgenannten kleinen Schulversuch waren die Mundbilder für alle Laute unserer Sprache gezeichnet.[1]

Die Abbildungen E I.3 und E I.4 zeigen die damaligen 36 Mundbilder. In Abbildung E I.5 sind sowohl die schon damals eingesetzten „Rechtschreib-Sonderzeichen“ zu sehen als auch die ersten Symbole für Wortarten (Grammatik: Verb und andere Wörter).

Abbildung E I.3:  - Laut-Pictogramme  I-III                  Abbildung E I. 4: Laut-Pictogramme IV -V 

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Abbildung E I. 5: Rechtschreib-Sonderzeichen                           Abbildung E I. 6: Lautschrift

und Grammatiksymbole  

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Ein Beispiel, wie sich mit den Laut-Pictogrammen eine Laut-Schrift zusammensetzen lässt, die auf die Veränderungen zwischen Aussprache und Schreibweise hinweist, wird mit Abbildung E I.6 gegeben.

Abbildung E I.7: Lautschrift für Kinder mit Silbeneinteilung

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Neben der bewussten Lautbildung, die mit Hilfe der Mundbilder verdeutlicht wurde, gab es auch Hilfen zur Silbenerkennung. Entsprechende Lautschrift-Wörter mit Silbenbögen sind in Abbildung E I.7 verzeichnet.

4.                 Eine Studie: „Wie gut können Grundschüler die Laut-Pictogramme erkennen?“

Ende der 1970er Jahre war es möglich, mit Hilfe einer Pädagogikarbeit und mehreren anderen Fächern, über die Volkshochschule einen Zugang zum Studium an einer Hochschule zu erwerben. Meine Pädagogikarbeit konnte ich Herrn Prof. Dr. Lingelbach (Universität Frankfurt - Erziehungswissenschaften) vorlegen. Für diese Arbeit führte ich eine kleine Studie durch.

GrundschülerInnen einer dritten und vierten Klasse wurden Wörter, bestehend aus Laut-Pictogrammen, vorgelegt. Die Laut-Pictogramme hatte ich zu diesem Zweck überarbeitet und Lippen und Zunge rot eingefärbt. Die Kinder erhielten sechs Wörter in Laut-Pictogramm-Schrift.

Ergebnisse der Kinder der dritten Klasse: Von zwanzig Kindern der dritten Klasse konnten 10 Kinder kein Bild in einen Laut verwandeln, die restlichen zehn erkannten im Durchschnitt 6 Laute. 13 Kinder konnten kein Wort lesen und 7 Kinder je ein Wort.

Ergebnisse der Kinder der vierten Klasse: Die Kinder der vierten Klasse zeigten schon wesentlich bessere Ergebnisse: Im Durchschnitt erkannten die 23 Kinder 10 Laut-Pictogramme von 24. Beim Lesen der Wörter waren 16 Kinder in der Lage ein Wort zu lesen und sechs Kinder schafften sogar zwei Wörter. Die nachfolgenden Graphiken zeigen die sechs Wörter, die den Kindern vorgelegt wurden.

Abbildung E I.8:  Laut-Pictogramm-Wörter, die den Schülern einer dritten und vierten Klasse (Grundschule) vorgelegt wurden: Blatt 1)

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Abbildung E I. 9: Laut-Pictogramm-Wörter, die den Schülern einer dritten und vierten Klasse (Grundschule) vorgelegt wurden: Blatt 2)

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Die Kinder bekamen 10 Minuten Zeit, um ein Blatt zu bearbeiten. Auf dem ersten Blatt (Abbildung E I.8) stehen die Laut-Pictogramm-Wörter: <Mama>, <Name>, <Rose>. Das zweite Blatt (Abbildung E I.9) enthält die Wörter: <Puppe>, <Schule>, <Kanne>. (Einzelne Buchstaben, die auf den Arbeitsblättern zu sehen sind, haben die Kinder eingetragen.)

5.                 Der Einsatz des „Nahsinn-orientierten Ansatzes“ in der Sozialarbeit

Bis zur Mitte der 1980er Jahre arbeitete ich sieben Jahre lang als Leiterin einer Einrichtung in der Sozialarbeit. In dieser Zeit hatte ich meine MitarbeiterInnen mit meinem Ansatz vertraut gemacht. Diese wendeten das Gelernte dann in der Hausaufgabenhilfe in der Schule und in Sprachkursen für deutsche und ausländische Analphabeten mit Erfolg an.

Es erwies sich, dass türkische Mütter, die noch Analphabetinnen waren, das Lesen und Schreiben in Deutsch und türkisch gleichzeitig erlernen konnten, wenn die Lehrerinnen zweisprachig waren.

Ein zehnjähriger koreanischer Junge, der bereits ein halbes Jahr in Deutschland in die Schule ging, war bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, deutsche Wörter auszusprechen, so dass er auch die Bedeutung von Wörtern, die er aufgeschrieben hatte, nicht behalten konnte.

Diesen schwierigen Fall hatte ich selbst übernommen. Die Mutter, die zuvor bereits alleine längere Zeit in Deutschland gearbeitet hatte, bevor sie ihren Sohn nachholte, beherrschte die deutsche Sprache schon recht gut, so dass sie während des Unterrichts ihrem Sohn meine Anweisungen übersetzen konnte.

Meine Hilfe bestand darin, beide   -  Mutter und Sohn -  meine Sprechbewegungen nachahmen und beschreiben zu lassen. Diese Beschreibungen verbanden wir mit den Laut-Pictogramm-Kärtchen, so dass nun zuerst die Mutter auf dem Bild erkannte, was sie beim langsamen Sprechen erfühlen konnte. Das versuchte sie ihrem Sohn zu vermitteln, damit er anschließend die Buchstaben den Sprechbewegungen, beziehungsweise, den Laut-Pictogrammen, zuordnen konnte. Zusätzlich schnitten wir Bilder zu den Laut-Pictogramm-Wörtern aus, damit der Junge immer wieder die Bedeutung eines Wortes nachschlagen konnte.

Nun hatte die Mutter ein „Werkzeug“ erhalten, ihren Sohn beim Sprechen in der deutschen Sprache zu unterstützen, denn jetzt konnte sie ihm vormachen und beschreiben, wie die Laute einzeln ausgesprochen und zu Wörtern zusammengeschliffen wurden.

Da sie sich zuvor ihrer eigenen Sprechbewegungen nicht bewusst war, konnte sie dem Kind auch nicht helfen. Nun aber, nach ungefähr zwei Monaten bei zweimal einer Unterrichtseinheit pro Woche, fing der Jung auch in der Schule an, sich mit den Kindern zu unterhalten.

6.                 Der Beginn der Arbeit als Lerntherapeutin

 

Mitte der 1980er Jahre machte ich mich als Lerntherapeutin selbstständig. Nun brauchte ich ein anderes Material, um effektiv unterrichten zu können.

Zuerst versuchte ich, einen hierarchischen Aufbau der Lernprozesse zu konzipieren. Dieser Aufbau bestand aus Tests und Übungen, mit Hilfe derer sich Basis-Fähigkeiten und -Fertigkeiten für das Rechnen, Lesen und Schreiben ermitteln ließen. So konnte ich bei Kindern mit Lernproblemen schnell den augenblicklichen Lernstand herausfinden. Diese Tests fanden in meiner Praxis bei neuen SchülerInnen stets in Anwesenheit der Eltern statt. Daraus entwickelte sich mit der Zeit die heutige „Schichtendiagnose“.

Da im Rahmen der „Schichtendiagnose“ bei einem nicht bestandenen Item sofort eine entsprechende Übung einsetzte, wurde den Kindern bereits bei der Einführung gezeigt, dass ihre Probleme aufgearbeitet werden können. Dadurch zeigten sich die Eltern in der Regel erleichtert, weil bestimmte Wissens- oder Könnenslücken beim Kind aufgedeckt wurden und es sich nicht um eine generelle Lernunfähigkeit des Nachwuchses im Rechnen, Lesen oder Schreiben / Rechtschreiben handelte.

Neben einer effektiven Diagnosemöglichkeit wurde ein Material gebraucht, mit dem die Kinder schneller Wörter aus Laut-Pictogrammen nach Diktat „schreiben“ konnten. Bis zu diesem Zeitpunkt verwendete ich Laut-Pictogramm-Kärtchen, um Wörter legen zu lassen. Diese Wörter mussten jedoch immer wieder aufgelöst und die Kärtchen wieder einsortiert werden, um neue Wörter bilden zu können.

Die Lösung für dieses Problem bestand darin, Laut-Pictogramm-Stempel anfertigen zu lassen. Diese Stempel erlaubten es nun, Wörter zu Sätzen, das heißt, zu einer Laut-Pictogramm-Schrift zusammenzufügen.

Einerseits konnten die Kinder nun Wörter auch ohne Buchstabenkenntnis „schreiben“ und das Gestempelte auf Wunsch sogar mit nachhause nehmen. Andererseits stempelte ich selbst Arbeitsblätter, damit diese „Lautschrift“ von den Kindern gelesen und in Schreibschrift übertragen werden konnte. Dafür zeichnete ich die Laut-Pictogramme neu. Die nachfolgenden Abbildungen zeigen diese neue Generation von Mundbild-Zeichnungen.

Abbildung E I. 10:                                                                            Abbildung E I. 11:

Stufe I - 80er-Jahre Stufe III-g-k-80er Jahre

Stufe I der Mundbilder                                                     Mundbilder aus der Stufe III

Mit der Zuordnung der Schriftzeichen des „Internationalen Phonetischen Alphabets“ (IPA) diente die Laut-Pictogramm-Schrift auch als gute Vorbereitung auf das Erlernen von Fremdsprachen.

In Abbildung E I.10 und E I.11 sind die Zeichen der „Internationalen Lautschrift“ einer Auswahl von Laut-Pictogrammen zugeordnet. 

Diese Form, „Diktate aufzunehmen“ (Wörter zu stempeln), entwickelte sich zu einer sehr begehrten Tätigkeit, weil den Kindern (auch durch die Auswahl der Wörter) kaum Fehler unterliefen, denn nur jene Stempel wurden stufenweise eingesetzt, für die bereits eine intensive Lautbildung mit übergroßen Sprechbewegungen durchgeführt worden war. Indem die Kinder das diktierte Wort nachsprachen, fühlten sie ihre Sprechbewegungen. Damit konnten sie über die eigenen Sprechbewegungen die Laut-Pictogramm-Kärtchen oder Laut-Pictogramm-Stempel der Reihe nach für ein Wort finden und aneinanderreihen. 

Die von mir selbst gestempelten Wörter entpuppten sich zu einem „Lesetraining“, das  - wie das Diktieren von Wörtern  -   noch ohne Buchstaben ablaufen konnte. Das bot viele Vorteile: So war dieses „Lesen“ zum Beispiel für die Arbeit in Kindergärten oder Förderschulen geeignet. Die folgenden Abbildungen E I.12 und E I.13 zeigen Arbeitsblätter, die mit den damaligen Mundbildern (gestempelte Ausführung) angefertigt wurden.

Abbildung E I.12:                                                                                             Abbildung E I. 13:

Lautbild-Schrift 80er-Jahre      Lautbild-Schrift - t- 80er Jahre

Eine Lautschrift für Kinder, die Kinder auch selbst stempeln konnten. Hier ist sie zum Übertragen in Schreibschrift vorgegeben.   -   1980er Jahre

Lösungen: Die Wörter (Abbildung E I.12) lauten: <haben, Rebe, heben, Lupe und Hupe>.

Die Wörter (Abbildung E I.13) lauten: <raten, Ratten, beten, Betten, Tasse>.

Kindern, die zum Beispiel bis zur Einschulung nur eine regionale Mundart gesprochen hatten, gelang es, mit Hilfe dieser „Laut-Pictogramm-Schrift“ die Aussprache der Wörter in der Hochsprache (die Sprache, die geschrieben wird) schneller korrekt auszusprechen.

Das gleiche gilt für Kinder mit anderer Muttersprache, denn für beide Personengruppen bedeutet das Schreiben der deutschen Schrift das Schreiben in einer fremden Sprache, wofür sie eigentlich die Aussprache zuerst und dann das Schreiben hätten erlernen müssen. Ch. Röber bezeichnet die Hochsprache als „Explizitsprache“:  „Explizite Formen (der Sprache, Anm. d. Verf.) sind immer zweite Formen, ihnen geht ein Lernprozess, eine kognitive Betrachtung voraus, im Gegensatz zu der bereits vorhandenen, inzwischen spontanen Umgangssprache“[2]. Auch wird angenommen, dass der „Schriftspracherwerb (…) als ein Prozess gesehen (wird), der grundsätzlich vergleichbar ist mit dem frühkindlichen Spracherwerb des Kindes“[3].

Mit anderen Worten: Der Schriftspracherwerb baut auf dem Spracherwerb auf. Das heißt, dass auch in der Schule in dieser Reihenfolge das Lesen und Schreiben der zu schreibenden Sprache erlernt werden sollte.

Mit dem oben gezeigten Material, das in Teil II dieses Buches in der heutigen Form vorgestellt wird, kann diese Reihenfolge auch bei Schulkindern eingehalten werden, die entweder mit einer ausgeprägten regionalen Mundart oder mit einer anderen Muttersprache die Schriftsprache erlernen sollen.

 Laut-Pictogramm-Kärtchen sind trotz der Stempel wichtig!

Die letzten Handzeichnungen, die ich anfertigte, sollten für Kärtchen verwendet werden, weshalb jene Laut-Pictogramme, die sehr oft in Wörtern vorkommen, in den folgenden Abbildungen auch wiederholt Verwendung finden. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Größe der Mundbilder für die Kinder zu Anfang günstiger war als die viel kleineren Stempel-Pictogramme, so dass die einführende Lautbildung mit Hilfe der Laut-Pictogramm-Kärtchen durchgeführt wurde. Erst nachdem die Kinder die Laute aufgrund der größeren Zeichnungen bilden konnten, erhielten sie die Stempel.

Abbildung E I. 14               Abbildung E I.15

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Abbildung E I.14:  enthält die Laute von oben nach unten: [ei, eu, h], zweite Reihe: [s, r], dritte Reihe: [i, e].

Abbildung. E I.15: [b, p, d, t, g, k], in der dritten Reihe: [a, o, u, e, i]

Abbildung E I.16

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Abbildung E I.16: Folgende Laute sind hier als Mundbilder abgebildet: von oben nach unten, 1. Reihe: [sch, f, x, ch(2), nk], zweite Reihe: [sp, w, ch(1), Qu, pf], dritte Reihe: [st, z, j, ng].

7.                 Die Ausbildung und Zusammenarbeit mit einer weiteren Person

Anfang der 1990er Jahre bildete ich eine Person aus, mit der ich anschließend zehn Jahre zusammenarbeitete. In dieser Zeit fanden Veröffentlichungen statt und die ersten staatlichen Lehrerfortbildungen in Österreich begannen. Unter Anlehnung an Hans-Joachim Kossow[4], der seine Interventionsstudie mit lese- und rechtschreibschwachen Kindern beschrieben hatte, wurde meine bisherige Arbeit in „Kybernetische Methode“ umbenannt und die Laut-Pictogramme am Computer nachgezeichnet, so dass die Mundbilder nun in Farbe erstrahlten.

Nach dieser Zeit, das heißt, kurz nach der Jahrtausendwende, trennten sich unsere Wege und ich begann ein Studium.

8.                 Die Arbeit als Ko-Dozentin an einer Universität

Nachdem ich begonnen hatte, meine Zulassungsarbeit für den Magisterabschluss zu schreiben, verlegte ich meinen Wohnsitz von Passau nach Konstanz, um an der dortigen Universität zusätzlich als Ko-Dozentin im Fachbereich Pädagogische Psychologie, mitzuarbeiten. Interessierte StudentInnen wurden in die Arbeit mit diesem Ansatz eingeführt. Es handelte sich dabei um angehende LehrerInnen an Gymnasien, die dort als Beratungslehrer für Kinder mit Lernschwierigkeiten tätig werden wollten.

9.                 Die „Nahsinn-orientierte Spindler-Methode®“

Bald nach der Emeritierung des Professors, mit dem ich zusammenarbeitete, verlegte ich meinen Wohnsitz wieder in die Gegend von Passau zurück. Hier nahm ich dann auch den nunmehr letzten Schritt in Bezug auf die Verbesserung der Laut-Pictogramme vor.

Zusätzlich erhielt der Ansatz eine neue Bezeichnung, mit der sich die charakteristischen Lernprozesse zum Rechnen, Lesen und Schreiben lernen besser ausdrücken ließen. Charakteristisch ist diese Bezeichnung „Nahsinn-orientierter Ansatz“ deshalb, weil mit dem Rechnen-, Lesen- und Schreiben- / Rechtschreiben lernen Entwicklungsrückstände im Bereich der Nahsinne Tast- und Bewegungsempfindung aufgearbeitet werden können und sich die Feinsteuerung der Finger- und Sprechmuskulatur nachentwickeln lässt.

Im Besitz der Urheberrechte für die Laut-Pictogramme und der Berechtigung, die „Kybernetische Methode“ unter anderem Namen weiterzuentwickeln, habe ich nun eine weitere Generation der Mundbilder als Computer-Zeichnungen erstellt: Das wichtigste an dieser neuen Version ist, dass alle Mundbilder in Lese- und Schreibrichtung „schauen“. Das schien für die Kinder verständlicher zu sein, in dem Sinne, als sich in einem Wort beim Lesen eine Mundbewegung aus der anderen der Reihe nach von links nach rechts bildet.

In Teil II sind zwar alle Laut-Pictogramme verzeichnet, doch an dieser Stelle möchte ich die Weiterentwicklung jener Mundbilder dokumentieren, die in Lese- und Schreibrichtung gezeichnet sind (Abbildung E I.17):

Abbildung E I. 17: Laut-Pictogramme, die in Lese- und Schreibrichtung „schauen“.

In spitzer Klammer sind die zugehörigen Buchstaben (Abbildung E I.17) verzeichnet, während mit Hilfe einer eckigen Klammer die Aussprache gekennzeichnet wird, das heißt: <x> wird als [ks] und <z> wird als [ts] ausgesprochen.

Die aktuellen Weiterentwicklungen in Form von neuen Vorgehensweisen und Arbeitsblättern für das Rechnen, Rechtschreiben, Grammatik und für die englische Sprache sind in dem Buch: „Nahsinn-orientierter Ansatz zum Rechnen, Lesen, Schreiben und Rechtschreiben mit gleichzeitiger Nachentwicklung von Motorik und Sprache. Handbuch für Schule, Therapie, Kindergarten und Elternhaus, (E. J. Jergens, 2016) Eigenverlag“ zusammengefasst.


 

[1] Seit 1978 verfüge ich über die Urheberrechte an den „Laut-Pictogrammen“

[2] Chr. Röber 2009, S. 246

[3] A. Schründer-Lenzen 2009, S. 30

[4]Vgl. Kossow 1973, S. 35